Sie tanzten, wir filmten. Ich hatte das Gefühl, dass in diesem Jahr besonders viel Wirbel um den Karneval der Kulturen gemacht wurde, mehr als sonst. Vielleicht ist das auch nur meine Wahrnehmung. Dennoch: Der Karneval war für mich immer besonders. Der Karneval ist: künstlerisch, politisch, athletisch, ästhetisch. Er steht für Vielfalt, Freude und gemeinsames Feiern im öffentlichen Raum, in meiner Vorstellung lebe ich dabei den brasilianischen Traum.
Ich stand am Straßenrand mit meiner Kamera und wartete darauf, dass es losgeht. Mein Ziel: schöne Bilder. Doch schon nach wenigen Minuten bemerkte ich: Ich war gar nicht richtig da. Und die Menschen um mich herum auch nicht. Alle hatten ihre Handys in der Hand. Niemand klatschte, niemand tanzte. Die Darsteller*innen blickten nicht in Gesichter, sondern in eine Wand aus Handykameras.

Kultur unter der Linse
Die Szene erinnert an Walter Benjamins Kritik an der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks. Was er in den 1930er-Jahren über Film und Fotografie sagte, trifft heute mehr denn je auf Live-Events zu: „Was der Mensch früher in der großen Gesamtheit erlebte, das holt er sich jetzt in einzelne Ausschnitte, die er beliebig wiederholen kann“ (Benjamin, 1936). Die Aura des Augenblicks geht verloren, wenn wir ihn durch Bildschirme statt mit den Sinnen erfahren.
Auch Adorno und Horkheimer warnten in ihrer Kulturkritik davor, dass Kultur zur Ware wird und damit ihre Kraft verliert (Adorno & Horkheimer, 1944). Der Karneval, ein Fest der Begegnung, wird konsumiert wie ein Produkt. Wir „nehmen auf“, anstatt wirklich teilzuhaben.

Von Club zu Diskothek: das Berlin der Gegenwart
Das Phänomen endet nicht beim Karneval. Auch in Konzerten und Clubs spürt man die Entfremdung. Bands bitten um echte Aufmerksamkeit. Und doch: kaum jemand ist wirklich präsent. Die besten Partys erlebte ich immer dort, wo es keinen Empfang gab. Kein Netz, keine Kamera, keine Selbstdarstellung, nur Begegnung.
Berlin ist immer noch berühmt für seine lebendige Clubkultur, dennoch verschwinden zunehmend die kleinen Clubs. Steigende Mieten, Gentrifizierung und hohe Betriebskosten führen zu Schließungen. So stellte etwa das „Mensch Meier“ 2024 den Clubbetrieb ein und widmet sich nun Kulturprojekten (Berliner Zeitung, 2024). Laut Clubcommission Berlin schließen derzeit mehr kleine als große Clubs, was bleibt, sind Großdiskotheken mit Eventcharakter.
Soziologisch gesehen beschreibt dies einen Wandel von Subkultur zu konsumierbarer Freizeitindustrie. Wo einst selbstorganisierte Nischenkultur herrschte, entsteht nun Hochglanz-Entertainment für die Masse. Die Definition verschwimmt: Ein Club, einst Ort des kollektiven Ausdrucks, wird zur Diskothek im Sinne strukturierter, kommerzialisierter Unterhaltung (vgl. Thorsten, 2021).

Hochkultur, Subkultur und die Frage nach dem Wert
Auch Festivals zeigen diesen Wandel. Kleine Indie-Konzerte kosten heute 60 Euro, statt wie früher 15. Die Menschen sparen sich den Abend in der Kneipe für ein „richtig großes“ Erlebnis. Subkulturelle Kunstformen leiden darunter: Musikerinnen, Comedians, Straßenkünstlerinnen, sie alle kämpfen gegen Unsichtbarkeit.
Dabei stellt die Postkoloniale Theorie zurecht die Frage, ob kulturelle Darbietungen überhaupt noch als politische Ausdrucksform verstanden oder nur noch konsumiert werden (vgl. Hall, 1996; Bhabha, 1994). Die Parade beim Karneval der Kulturen etwa, ein Manifest globaler Vielfalt, wird oft als „buntes Spektakel“ gesehen, aber kaum als Plattform für Stimmen aus dem globalen Süden.
Entfremdung und das Diktat der Sichtbarkeit
Günther Anders prägte den Begriff der prometheischen Scham: die Scham, mit den eigenen Schöpfungen nicht mehr mithalten zu können (Anders, 1956). Vielleicht ist es das, was uns heute betrifft. Wir stehen am Rand eines Festes, sehen, filmen, aber fühlen uns dabei leer. „Dabei gewesen“ aber nicht wirklich da gewesen. Byung-Chul Han beschreibt das als „Transparenzgesellschaft“ (Han, 2012): Alles ist sichtbar, aber nichts wird mehr begriffen.
Wir sind müde geworden, überreizt, fragmentiert. Der Moment hat keinen Wert mehr, wenn er nicht gepostet werden kann.

Zwischen App und Applaus: eine Einladung zum Erleben
Natürlich verändert sich alles. Das soll es auch. Aber diese Geschwindigkeit, diese Gleichzeitigkeit von allem, macht es schwer, noch da zu sein. Ist das nur ein Generationsphänomen? Oder entfremden wir uns tatsächlich zu schnell von dem, was uns einst verbunden hat?
Im Urlaub merke ich es besonders: Ohne Handy bin ich aufgeschmissen. Aber ich sehne mich gleichzeitig nach einem Moment Ruhe. Nach Erleben, nicht nach Abbildung. Vielleicht ist das unsere Aufgabe: Kultur wieder als etwas zu sehen, das zwischen Menschen passiert. Nicht zwischen Linse und Like.


Und jetzt? Von der Kritik zur Praxis: ein Aufruf zur bewussten Koexistenz
Die Frage bleibt: Wie kommen wir raus aus diesem Dilemma der ständigen Koexistenz von Digitalisierung und realem Leben??
Vielleicht geht es nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern bewusste Räume zwischen beiden zu schaffen. Räume, in denen Menschen wieder auftauchen dürfen nicht nur als Avatare oder Schatten im Feed, sondern als Körper, Stimme, Blick.
Dazu braucht es keine Verbote, sondern neue Alltagsregeln. Kleine Vereinbarungen mit sich selbst und anderen. Zum Beispiel: Bildschirmzeiten bewusst planen wie Mahlzeiten: regelmäßig, aber nicht ständig. Nicht immer verfügbar sein und das auch klar kommunizieren dürfen. Handyfreie Zonen und Zeiten schaffen: im Club, beim Konzert, beim Essen mit Freunden. All das existiert bereits und wird doch selten wirklich umgesetzt. Vielleicht sollten wir aufhören, uns emotional vom Smartphone abhängig zu machen, und es endlich als das betrachten, was es ist: ein Werkzeug, das dem Konsum dient.
Wir brauchen keine digitale Askese aber digitale Achtsamkeit.
Ob beim Karneval, im Club oder im Alltag Kultur lebt vom Mitmachen, nicht vom Mitschneiden. Wenn wir anfangen, bewusster zu konsumieren, beginnen wir auch wieder zu erleben. Vielleicht ist es das, was wir heute am meisten brauchen: weniger Kontrolle, mehr Kontakt. Weniger Story, mehr Geschichte. Unsere eigene, gelebte und nicht nur archivierte.

Kdk 25 Berlin- a smile with passion.
Present but not truly there: On the Carnival of Cultures and alienation in the digital age
They danced, we filmed. I felt like there was more buzz around the Carnival of Cultures this year than ever before. Maybe that’s just my perception. Still, the carnival has always held a special place for me. The carnival is artistic, political, athletic, aesthetic. It represents diversity, joy, and collective celebration in public space. In my mind, I’m living the Brazilian dream.
I stood at the roadside with my camera, waiting for it to begin. My goal: to capture beautiful images. But after just a few minutes, I realized I wasn’t really present. And neither were the people around me. Everyone had their phones in hand. No one clapped, no one danced. The performers didn’t look into faces, but into a wall of phone cameras.
Culture under the lens
The scene recalls Walter Benjamin’s critique of the technical reproducibility of art. What he said in the 1930s about film and photography is even more true of today’s live events: „What people once experienced collectively, they now retrieve in fragments they can endlessly repeat“ (Benjamin, 1936). The aura of the moment is lost when it’s experienced through screens instead of the senses.
Adorno and Horkheimer, too, warned in their cultural criticism that culture becomes a commodity and thereby loses its power (Adorno & Horkheimer, 1944). The carnival, once a celebration of encounter, is now consumed like a product. We “record” instead of truly participating.

From clubs to discos: Berlin today
This phenomenon isn’t limited to the carnival. You can feel the alienation at concerts and in clubs as well. Bands ask for genuine attention. And yet, few people are truly present. The best parties I’ve had were always those with no signal: no reception, no camera, no self-display just connection.
Berlin is still famous for its vibrant club culture, but more and more small clubs are disappearing. Rising rents, gentrification, and high operating costs lead to closures. For example, „Mensch Meier“ ceased its club operations in 2024 and now focuses on cultural projects (Berliner Zeitung, 2024). According to Clubcommission Berlin, more small clubs are closing than large ones, leaving behind big event-oriented discos.
Sociologically, this describes a shift from subculture to consumable leisure industry. Where once there was self-organized niche culture, now glossy mass entertainment emerges. The definition blurs: A club, once a place of collective expression, becomes a disco structured, commercialized entertainment (cf. Thorsten, 2021).


High culture, subculture, and the question of value
Festivals also reflect this shift. Small indie concerts now cost 60 euros instead of the 15 they once did. People skip evenings at the pub to save up for a “big” experience. Subcultural art forms suffer as a result: musicians, comedians, street performers they all struggle with invisibility.
Postcolonial theory rightly questions whether cultural performances are still seen as political expressions or merely as consumable entertainment (cf. Hall, 1996; Bhabha, 1994). The parade at the Carnival of Cultures, for example a manifesto of global diversity is often perceived as a “colorful spectacle,” but rarely as a platform for voices from the Global South.
Alienation and the dictatorship of visibility
Günther Anders coined the term „Promethean shame“: the shame of no longer being able to keep up with one’s own creations (Anders, 1956). Maybe that’s what’s affecting us today. We stand on the sidelines of a celebration, watching, filming and feeling empty. Present, but not truly there. Byung-Chul Han calls this the “Transparency Society” (Han, 2012): everything is visible, but nothing is truly grasped.
We’ve become tired, overstimulated, fragmented. A moment has no value unless it can be posted.


Between apps and applause: an invitation to experience
Of course, everything changes. It should. But this speed this simultaneity of everything makes it hard to truly be present. Is this just a generational issue? Or are we detaching too quickly from what once connected us?
I notice it most on vacation: without my phone, I feel lost and yet I long for a moment of peace. For experience, not depiction. Maybe that’s our task: to see culture again as something that happens between people. Not between lenses and likes.
From critique to practice: a call for conscious coexistence
The question remains: How do we get out of this dilemma the constant coexistence of digitalization and real life?
Maybe it’s not about choosing one over the other, but about creating conscious spaces in between. Spaces where people can reappear not just as avatars or shadows in a feed, but as bodies, voices, gazes.
This doesn’t require bans, just new everyday habits. Small agreements with ourselves and others. For example: plan screen time like meals regularly, but not constantly. Don’t be available all the time and feel allowed to say so. Create phone-free zones and times: at clubs, concerts, dinners with friends. All of this already exists, and yet is rarely implemented. Perhaps we need to stop making ourselves emotionally dependent on our smartphones and start seeing them for what they are: tools for consumption.
We don’t need digital asceticism: but digital mindfulness.
Whether at the carnival, in the club, or in daily life culture lives through participation, not preservation. If we begin to consume more consciously, we’ll start to experience again. And maybe that’s what we need most today: less control, more connection. Less story, more story. Our own lived, not just archived.

Literatur
Adorno, T. W. & Horkheimer, M., 1944. Dialektik der Aufklärung. Amsterdam: Querido.
Anders, G., 1956. Die Antiquiertheit des Menschen. München: Beck.
Benjamin, W., 1936. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bhabha, H. K., 1994. The Location of Culture. London: Routledge.
Han, B.-C., 2012. Transparenzgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.
Hall, S., 1996. Cultural Identity and Diaspora. In: Contemporary Postcolonial Theory. London: Arnold, pp. 110-121.
Thorsten, L., 2021. Clubkultur zwischen Nische und Mainstream: Berlin im Wandel. Berlin: Urban Studies Verlag.
Berliner Zeitung, 2024. Mensch Meier stellt Clubbetrieb ein: https://www.berliner-zeitung.de/kultur
