
Als ich im letzten Jahr auf Helgoland war, werde ich einen Moment nie vergessen: Eine junge Kegelrobbe lag im puderweißen Sand der Düne und sah mich an, als würde sie sich für mich in Pose werfen. Ich stand am Zaun, eigentlich mit genügend Abstand, aber der Moment hatte mich so gefangen genommen, dass ich die Welt hinter mir vollkommen ausgeblendet hatte. Dieses kleine Wesen, neugierig, weich, friedlich und ich, mit der Kamera am Zaun klebend, kaum einen Meter entfernt. Um uns herum hielten Menschen inne, beobachteten, flüsterten. Es war eine dieser Begegnungen, die still sind und doch alles in einem aufdrehen.

Doch die Nähe hatte Grenzen. Die Mutter der jungen Robbe kehrte zurück, robbte mit tiefen, warnenden Lauten in meine Richtung und zeigte sofort, dass ihr die Situation so gar nicht gefiel. Ich wich zurück, stolperte, fiel zurück in den Sand und alle lachten herzlich. Ich stand auf und zog mich sofort zurück. Trotzdem hatte ich das Gefühl, die Babyrobbe blickte mir nach.

Vielleicht bilde ich es mir ein, vielleicht war es nur ein Reflex. Aber irgendetwas an diesem Augenblick blieb. Und genau deshalb bin ich wiedergekommen: weil Helgoland nicht nur Natur zeigt, sondern uns selbst mal sein lassen.
Die Hauptinsel, an einem Tag leicht abzulaufen, zog mich mit ihrer Ruhe in den Bann: die klarste Luft, die ich je geatmet habe, der Wind, der tief in die Bronchien fährt, als würde er die Seele auslüften. Doch die wahre Magie liegt auf der Düne, fünf Minuten mit dem Wassertaxi entfernt, mit einem kleinen Flughafen, einem Rundweg, Strandkörben unter freiem Himmel, in denen man wirklich übernachten kann. Die Strände wirken sauber, gepflegt, geschützt. Doch das bedeutet nicht, dass die Gefahren fern sind. Sie liegen oft unter der Oberfläche.

Geisternetze ist hier das Stichwort: verlorene oder aufgegebene Fischernetze gehören zu den größten unsichtbaren Bedrohungen für die Nord- und Ostsee. Sie treiben teils jahrzehntelang im Wasser und fischen weiter, ohne je dafür gedacht zu sein. NABU beschreibt sie als eine der langlebigsten Gefahren für Meeressäuger Fallen, die nicht aufhören zu wirken.
Regelmäßig werden in der deutschen Nordsee große Mengen dieser Netze geborgen. Eine einzige Bergungsaktion von Ghost Diving Germany holte über 500 Kilogramm Geisternetze aus einem Wrack vor der Küste. Ein Beispiel, das zeigt, wie massiv das Problem ist. WWF bestätigt ebenfalls, dass verlorene Fanggeräte eine der persistentesten ökologischen Gefahren für marine Lebensräume darstellen. Auch der Beifang ist eine reale Bedrohung für Meeressäuger wie die Kegelrobbe. Laut dem Bundesamt für Naturschutz zählt Beifang zu den häufigsten menschlich verursachten Todesursachen bei Meeressäugern. Gleichzeitig betonte die Gemeinde Helgoland, dass vor Ort keine erhöhten Störungen durch Besucher festgestellt werden, die großen Gefahren lauern eher im Meer.
Wissenschaftliche Einordnungen des International Council for the Exploration of the Sea (ICES) gehen davon aus, dass in der südlichen Nordsee und im Ärmelkanal jährlich mehrere Hundert Robben durch unbeabsichtigtes Mitfischen sterben. Diese Verluste bleiben oft unsichtbar, da viele Tiere im Meer verenden und nie angespült werden.
Gleichzeitig hat sich die Kegelrobbenpopulation an den deutschen Küsten in den vergangenen Jahrzehnten erholt. NABU dokumentierte bereits 2017 einen neuen Höchststand an Geburten. Doch eine wachsende Population bedeutet nicht automatisch Sicherheit. Im Gegenteil: Ohne natürliche Fressfeinde und mit begrenztem Lebensraum entstehen neue Konflikte, mehr Tiere bedeuten mehr Begegnungen, mehr Störungen, mehr Druck. Einige Robbenweibchen sind sich inzwischen bewusst, das an den Stränden Menschen vorbeilaufen, weil dort weniger Konflikte mit Artgenossen auftreten. Die Tiere treffen ihre Entscheidungen selbst, was Experten vor Ort immer wieder beobachten.
Helgoland zeigt, wie fragile Natur zugänglich gemacht werden kann, ohne sie vollständig zu überfordern. Die Insel bietet uns die Möglichkeit, unberührte Wildnis aus der Nähe zu erleben, ohne sie zu zerstören zumindest dann, wenn wir begreifen, dass dieser Rahmen nicht gesprengt werden darf.
Tourismus ist Teil des Konzepts, aber Tourismus hat Grenzen. Zu viele Menschen bedeuten Stress für Tiere. Zu viel Nähe bedeutet Gefahr. Zu viel Nachfrage erzeugt Druck, der nicht nur auf Helgoland spürbar ist. Gleichzeitig arbeitet die Insel mit klaren Strukturen: Strände werden saisonal gesperrt, Ranger und Mitarbeitende des Vereins Jordsand patrouillieren und greifen ein, wenn Menschen sich nicht korrekt verhalten. Wer absichtlich stört, wird der Düne verwiesen; renitentes Verhalten kann angezeigt werden. Drohnenflüge ohne Genehmigung führen ebenfalls zu Anzeigen.
Denn das eigentliche Problem ist nicht lokal, sondern global. Von Island bis Thailand, von den Alpen bis nach Berlin: Orte zerbrechen unter touristischer Überlastung, Tiere verlieren Rückzugsräume, Lebensräume verlieren ihre Identität. Helgoland ist nur ein kleiner Punkt auf der Karte, aber ein Beispiel dafür, dass Naturschutz und sanfter Tourismus nebeneinander existieren können, solange wir verstehen, dass wir Gäste sind. Und dass Respekt nicht optional ist.
Ich habe noch tausend Worte zu diesem Thema, dazu bald mehr. Der Moment mit der Babyrobbe hat mir jedenfalls gezeigt, dass unsere Verantwortung größer ist, als der Zaun zwischen uns vermuten lässt.






Quellen
Geisternetze & Meeresschutz
NABU: Hintergrund & Gefahren von Geisternetzen:
https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/meere/lebensraum-meer/gefahren/24489.html
Ghost Diving Germany: Bergung von 500 kg Geisternetzen aus der Nordsee:
https://www.ghostdiving.org/ghost-diving-germany-recovers-more-than-500kg-ghost-nets-from-the-north-sea/
WWF: Informationen zu verlorenen Fanggeräten (ALDFG):
https://www.wwf.de/themen-projekte/meere-kuesten/meeresschutz/geisternetze
Beifang & Robbensterblichkeit
Bundesamt für Naturschutz (BfN) Beifang als Gefahr für Meeressäuger:
https://www.bfn.de/themen/meere-kuesten/meeresschutz/beifang
ICES:Wissenschaftliche Daten und Einschätzungen zu Beifang in der Nordsee:
https://ices.dk
Populationsentwicklung Kegelrobben
NABU: Geburtenentwicklung & Bestandserholung:
https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/meere/lebensraum-meer/24849.html
Robbenverhalten & Schutzregeln Helgoland
Gemeinde Helgoland: Hinweise zu Robben, Abstand, Verhaltensempfehlungen:
https://www.helgoland.de/natur/robben/
